Karl Marx – was bringt er uns heute? Die Langfassung.

Von Ralph Crimmann

Über Karl Marx im Philosophenclub sprechen heißt: Eulen nach Athen tragen. Jeder verbindet mit Marx schon gewisse Grundbegriffe, wie etwa Klassenkampf, Ausbeutung, Sieg der Proletarier über die Kapitalisten am Ende, Verachtung der Bourgoisie, die klassenlose Gesellschaft als Ziel, die internationale kommunistische Bewegung, die Hymne „Die Internationale“, Abschaffung des Eigentums, Enteignung der Enteigner – um nur einige Schlagwörter zu nennen. Sofort kommen uns dann auch die geläufigen Bewertungen in den Kopf: Illusion, Utopie, Unmenschlichkeit, Diktatur des Proletariats, Unfreiheit, Stalinismus.
Gegenüber diesen Bewertungen und Schlagwörtern möchte ich zum frühen Karl Marx zurückkehren. Detlev hat ja bei der Einführung zu Kant schon die grundlegenden Fragen der Philosophie genannt, wie sie Kant in seiner Logik-Vorlesung dargestellt hat: 1. Was können wir wissen? 2. Was sollen wir tun? 3. Was dürfen wir hoffen? 4. Diese drei Fragen sind gebündelt in der Frage: Was ist der Mensch?
Ich möchte demgemäß diese zusammenfassende Fragestellung „Was ist der Mensch?“ aufgreifen, wenn ich den frühen Karl Marx hier darstelle. Zunächst einige Bemerkungen zu seinem Leben.
Marx ist 1818 in Trier geboren. Er entstammte einer jüdischen Familie. Sein Vater war aber zum Protestantismus konvertiert und der junge Marx ist konfirmiert worden. Er studierte Rechtswissenschaft und Philosophie. 1841 wurde er mit einer Arbeit über Demokrit und Epikur promoviert. Dann wurde er Journalist in der Rheinischen Zeitung. Marx versuchte die Zensur zu unterlaufen, was aber nicht gelang. So begab er sich mit seiner Frau nach Paris und wurde zum politischen Schriftsteller. Er wurde von der preußischen Regierung verfolgt und musste nach Brüssel emigrieren; von dort aus schrieb und veröffentlichte er 1848 das „Kommunistische Manifest“. Auch aus Belgien wurde Marx ausgewiesen, so dass er schließlich nach London ging. Dort lebte er von der Unterstützung durch Friedrich Engels. Er arbeitete als Journalist und Schriftsteller. Sein umfangreiches Werk „Das Kapital“ entstand dort. 1883 starb er schließlich in London.
Von besonderem Interesse sind seine Jugendschriften, die bis etwa 1848 erschienen sind. Hier finden wir einen frischen und scharf pointierenden Marx. Sein Materialismus ist gegen den Idealismus der deutschen Philosophie, Kant, Schelling, Fichte, Hegel usf. gesetzt. Nicht die Ideen bestimmen das Menschsein, sondern sein gesellschaftlicher und finanzieller Status, berühmt zusammengefasst in dem Satz: „Es ist nicht das Bewusstsein des Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ (Vorwort zu „Zur Kritik der politischen Ökonomie“). Der physikalische Materialismus des Demokrit wird so umgemünzt in einen psychologischen Materialismus. Ob die These, dass unser gesellschaftlicher Status unser Bewusstsein prägt, stimmt, möchte ich dahingestellt lassen. Gibt es nicht gerade ein dem finanziellen Status gegenläufiges Denken und Bewusstsein? Als Beispiel nenne ich die Protesthaltung der 1968er wie Ulrike Meinhoff und ihrer Freunde, welche oft aus begüterten oder gut bürgerlichen Familien stammten. Die Materialismus-These von Marx erscheint zwar äußerst wirksam, so etwa bei Bertolt Brecht, ist aber doch fragwürdig.
Ein weiterer Aspekt des Menschenbildes von Marx ist seine Religionskritik. Hierzu muss man die Hintergründe kennen. Wie schon erwähnt, stammt Marx aus einem jüdisch-protestantischen Elternhaus. Die Kritik an dem Äußeren der Religion, vor allem an der Verbindung von Thron und Altar, wie sie im 19. Jahrhundert wieder aufgelebt ist, ist von daher verständlich. Hinzu kommt bei Marx das Studium von Ludwig Feuerbach, dem Religionskritiker des frühen 19. Jahrhunderts. Für Feuerbach ist Religion hauptsächlich Projektion unserer Wünsche auf ein höheres Wesen. Zwei Wünsche werden so projiziert, und zwar der Wunsch nach einem Fortleben nach dem Tod und der Wunsch, von den Naturgewalten nicht verschlungen zu werden. (Das Wesen des Christentums, 52 ff, 223 ff). Die Erfüllung dieser Wünsche ist nach Feuerbach jedoch eine bloße Illusion. Hinter der ganzen Wunsch-Projektion findet sich kein Gott; da ist bloß ein schweigendes Universum. Feuerbach schätzt aber die Religion dennoch hoch ein, weil sie Werte wie Freundschaft, Liebe, Eigentum, Ehe und die Sehnsucht nach Glück aufbewahren. (Das Wesen der Religion, 401, 403). Trotz seines Atheismus ist also Feuerbach in gewissem Sinn kein Verächter der Religion.
Dies sollte den Widerspruch von Karl Marx herausfordern. Marx lässt den romantischen Rest von Feuerbachs Religionsphilosophie hinter sich. Er setzt dagegen die materialistische Realität des Proletariers. Diesem hilft kein Gott. Der Arbeiter wird gnadenlos vom Bourgeois ausgebeutet. Das Arbeiterelend hat Marx schon vorausgeahnt. In England hat er die Kinderarbeit studiert. Die Kinder mussten im Bergwerk arbeiten, weil sie so klein waren, dass sie die Loren schieben konnten. Sie waren so erschöpft, dass sie nach der Arbeit, wenn sie aus dem Kohlenschacht herauskamen, an der Grube erschöpft zusammengebrochen sind. Der Grubenbesitzer hat aber mit Hilfe der Religion seinen Status als Bürger bzw. Bourgeois abgestützt. Marx sieht sehr klar, dass die Religion missbraucht, instrumentalisiert wurde, um die gesellschaftlichen Verhältnisse zu zementieren. Deshalb kritisiert er Feuerbach: „Feuerbach sieht … nicht, dass das ‚religiöse Gemüt‘ selbst ein gesellschaftliches Produkt ist und dass das abstrakte Individuum, das er analysiert, einer bestimmten Gesellschaftsform angehört.“ (Die deutsche Ideologie, 7. These über Feuerbach; aus: Die Frühschriften, 341). Marx lehnt also den religiösen Überbau über der Gesellschaft ab. Selbst dort, wo er in der nie publizierten Einleitung zur Hegelschen Rechtsphilosophie schreibt, dass die Religion Ausdruck des „Seufzer[s] der bedrängten Kreatur“ ist, bleibt er seiner Auffassung treu, dass Religion letztlich „Opium des Volkes“ und ein „illusorisches Glück“ ist. Religion muss abgeschafft werden, ebenso wie das Privateigentum. Nur so näheren wir uns der klassenlosen Gesellschaft.
Damit kommen wir zum dritten Aspekt des Menschenbildes von Karl Marx. Der Mensch ist fähig, von sich aus die Welt zu verändern hin zu einer Art des gesellschaftlichen Paradieses. In der klassenlosen Gesellschaft gibt es keine Arbeitsteilung, keine Selbstentfremdung und den Mehrwert der geleisteten Arbeit streicht nicht der Fabrikbesitzer ein, sondern kommt allen zugute. In dem nachgelassenen Fragment „Deutsche Ideologie“ von 1846 beschreibt Marx seinen Traum von dieser anderen Welt, der klassenlosen Gesellschaft. Er kontrastiert sie mit seiner Gegenwart, wo die Arbeitsteilung vorherrscht: „Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, die ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muss es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe; ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“ Einmal davon abgesehen, dass hier Marx das Ideal einer postmodernen Pensionistenexistenz beschreibt, ist sein Entwurf als gesamtgesellschaftlicher natürlich utopisch. Eine nicht-entfremdete Welt kann es nicht geben. Arbeit ist immer auch Mühe und Anstrengung, oft mit Frustration verbunden. Dennoch sollte man die Marx’sche Utopie nicht gleich als religiöse Schwärmerei abtun. Immer wieder hat man Marx einen wirklichkeitsfernen Messianismus vorgeworfen. Es wurde gesagt, dass das Reich Gottes erst am Ende aller Zeiten von außen auf uns zukommt, es lässt sich nicht erzwingen. Wo man die Marx’sche Utopie mit Gewalt herbeizwingen wollte wie bei Lenin , Mao Tse Tung oder bei den roten Khmer in Kambodscha ist es mit einem entsetzlichen Terrorismus herbeigeführt worden, mit Millionen von Toten.
Für uns heute sollte die Gesellschaftsutopie von Marx jedoch eine säkulare Zielvorstellung, ein Ideal der Hoffnung bleiben. Wenn man sie von dem religiösen Messianismus ablöst, bleibt doch eine humane Grundidee bestehen, wie sich die Gesellschaft weiterentwickeln sollte. Der Kommunismus ist also von der Idee her ein Humanismus. Es geht um den Menschen, um die Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung. Nicht umsonst hat die Theologie der Befreiung die marxistische Gesellschaftsanalyse übernommen. Als Gustavo Gutierrez auf der Konferenz von Medellin 1968 die Theologie der Befreiung ausgerufen hat, haben ihm die lateinamerikanischen Bischöfe zugestimmt. Später wurden sie von Papst Johannes Paul II. und von Josef Ratzinger in die Schranken verwiesen. Insbesondere der Vorrang der Praxis vor der Theorie wurde angegriffen. Zuerst muss die Dogmatik entwickelt und stimmig sein, dann folgt die Ethik. Die Befreiungstheologen haben aber das Votum von Marx ernst genommen, wie er es in der 11. These über Ludwig Feuerbach ausgesprochen hat: „Die Philosophen haben die Welt nur verschiedenen interpretiert,; es kommt darauf an, sie zu verändern.“ Die Theologen der Befreiung beklagen bis heute, dass die Kirche nur predigt, und so zur Stabilisierung der bürgerlichen, kapitalistischen Klasse beiträgt. Es käme aber darauf an, von unten her, vom Volk der Armen aus Veränderungen zu initiieren. Der jetzige Papst Franziskus schafft wenigstens symbolhaft eine neue Bewusstseinslage. Er hat in seinem persönlichen Lebensstil einiges verändert. Er trägt keine roten Papstschuhe mehr wie sein Vorgänger, fährt in einem Kleinwagen durch Rom, lebt in einer bescheidenen Wohnung in der Nähe seines Büros und besucht die Migranten in Sizilien oder die Armen in Südamerika. Gerade wegen seines neuen, der Theologie der Befreiung zugewandten Lebensstils ist er Anfeindungen ausgesetzt. Er wird innerhalb seiner Kirche unter vorgehaltener Hand als Kommunist oder Marxist denunziert.
Karl Marx und seine Gesellschaftsanalyse erleben gegenwärtig durch die Befreiungsbewegungen in der ganzen Welt einen gewissen Aufschwung. Man kann sie besser verstehen, wenn man Marx wirklich kennt und unvoreingenommen liest. Dabei möchte ich meine Kritikpunkte an Marx durchaus nicht verstecken. Sehr skeptisch bin ich gegenüber der radikalen Abschaffung des Privateigentums. Konkurrenz belebt das Geschäft. Dazu braucht es Eigentum und Verantwortlichkeit. Kritisch bin ich auch gegenüber dem homo oeconomicus, wie ihn Marx aufzeigt. Der Mensch ist mehr als nur ein wirtschaftendes Wesen. Schließlich habe ich größte Bedenken gegen das Projekt einer Selbstbefreiung. Der Mensch muss sehen, was von außen auf ihn zukommt. Die Planung und Durchführung einer Revolution, die von nur wenigen in Szene gesetzt wird, endet tatsächlich in einer Diktatur. Bisher war diese aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Funktionärskaste. Zwar ist Marxens Vorstellung von den Revolutionen als Lokomotiven der Geschichte ein schönes Bild. Aber wenn man genauer hinsieht, so endeten die meisten Revolutionen in einem entsetzlichen Blutbad wie in der französischen Revolution und der ihr folgenden Gewaltherrschaft Napoleons.
Trotz meiner Kritikpunkte halte jedoch ich die Marx’sche Gesellschaftsanalyse gerade angesichts heutiger globaler Ausbeutung für aktuell und wichtig. Wahrscheinlich kommt bald eine Zeit, wo man im Denken wieder stärker auf Marx zurückgreift.

Ralph Crimmann, 1949 geboren, studierte Philosophie, Theologie und Germanistik. Er ist Lehrer für Deutsch, Evangelische Religionslehre und Philosophie. Gleichzeitig auch Zweitprüfer für Philosophie an der Ludwigs-Maximilians-Universität München.

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